Hildegart Reichert: Der silberne Berg (und andere Märchen im alten Gewande) |
Die Nixenperle
Wenn es im Sommer sehr heiß war, setzte der Knabe sich auf den Stein und ließ seine nackten Beine ins Wasser hängen. Einmal sah er, wie aus dem nahen Walde ein kleines Rehlein ängstlich über die Wiese sprang, verfolgt von einem großen, bösen Hund, der es beißen wollte. Schnell lief der Junge zu dem Rehlein, hob es empor und schlug mit seinem Stock auf den Hund, der knurrend fortlief. Das vor Angst zitternde Tier aber streichelte er und sprach beruhigend mit ihm.
Da trat aus dem Walde eine wunderschöne Fee im prächtigen Gewande, kam auf den Hütejungen zu und dankte ihm, dass er ihr Lieblingsreh gerettet hatte, und sagte: "Zur Belohnung schenke ich dir, dass du die Sprache aller Tiere verstehen sollst." Dann verschwand sie wieder im Wald. Der Knabe konnte sogleich verstehen, was seine Schäfchen sich erzählten, welchen Platz auf der Wiese sie besonders gern hatten und ob sie Durst oder Schmerzen hatten. Nun konnte er ihnen immer helfen, und seine Schafherde gedieh gut. Als er einmal wieder auf seinem Stein saß, kamen zwei Raben angeflogen. Sie setzen sich auf die eine Weide und erzählten sich allerlei. Da sprach der eine Rabe: "Heute Nacht ist Vollmond. Da kommt die Nixe aus dem Teich und setzt sich auf den Stein. Aber ihren Fischschwanz muss sie immer im Wasser behalten. Wenn sie ihn herauszieht, muss sie sterben." - "Ja", erwiderte der andere Rabe, "das weiß ich. Und sie singt dann auch immer so wunderschön, viel schöner als wir Raben und noch schöner als die Menschen." Dann flogen die beiden Vögel fort.
Der Junge hatte alles mit angehört, und als er abends die Schafe in den Stall gebracht hatte, ging er nicht zu Bett, sondern eilte heimlich zur Wiese und versteckte sich hinter dem Weidengebüsch. Nach kurzer Zeit stieg der Vollmond hinter dem Wald empor und leuchtete auf den Teich. Da plätscherte es im Wasser, und eine liebliche Nixe mit langen blonden Haaren schwamm ans Ufer und setzte sich auf den flachen Stein. Sie konnte wirklich wunderschön singen. Dabei spielte sie mit der Kette aus herrlichen großen Perlen, die sie um den Hals hängen hatte. Aber, o weh, plötzlich zerriss die Kette, und die Perlen rollten ins Gras. Das Nixlein bemühte sich sehr, die Perlen wieder einzusammeln, aber einige waren so weit fortgerollt, dass sie sie nicht erreichen konnte. Da fing sie an zu weinen. Dem Jungen tat das sehr leid. Er kam hinter dem Baum hervor und sagte: "Erschrick nicht, liebe Nixe, soll ich dir die Perlen auflesen?" Sie freute sich sehr, als sie die Perlen wiederhatte, bedankte sich bei ihm und sprach: "Ich schenke dir für deine Hilfe eine Perle. Es ist eine Wunschperle. Wenn du sie jemandem schenkst und dir etwas von ihm erbittest, wird er deinen Wunsch erfüllen." Daraufhin glitt sie ins Wasser und verschwand.
Nun ging der Knabe mit seiner wertvollen Perle nach Hause und verwahrte sie gut. Als er herangewachsen war, verließ er seinen Heimatort und zog in die Welt. Er heilte überall kranke Tiere, weil sie ihm sagen konnten, wo sie Schmerzen hatten. Bald wurde er ein berühmter Tierarzt, und viele reiche Leute riefen ihn, wenn ihnen ein Pferd oder Hund oder Vogel erkrankt war, und er konnte immer helfen. Nun regierte dort auch ein König, der eine hübsche Tochter hatte.
Die Prinzessin besaß ein schönes Pferd, auf dem sie gern ritt. Seit einiger Zeit war das arme Tier krank, fraß nicht und wurde immer schwächer. Man erzählte dem König von dem berühmten Tierarzt, und er schickte Boten zu ihm, damit er schnell käme, um das Pferd zu retten. Der junge Mann kam auch bald. Er hatte gutes Geld verdient und kleidete sich vornehm. "Lasst mich mit dem Pferd allein", bat er. Er wurde in den Stall geführt, und das arme Tier erzählte ihm, dass ein böser Stallknecht ihm immer giftige Kräuter ins Futter menge und es davon so viele Schmerzen habe. Nun ging der Tierarzt zum König und erzählte ihm alles. Der Knecht wurde ins Gefängnis gesteckt, das Pferdchen bekam jetzt gutes Futter und war bald wieder gesund.
Die Prinzessin freute sich besonders und bedankte sich. Ihr gefiel der Jüngling sehr und sie ihm auch. Aber sie meinte: "Ich darf dich nicht heiraten. Mein Vater erlaubt es nicht, weil du kein Prinz bist." Er antwortete: "Lass mich zu ihm gehen und ihn fragen." Er nahm die Nixenperle aus der Tasche, ging zum König und sprach: "Herr König, ich habe hier eine Perle, die ist so schön und wertvoll, wie Sie noch keine gesehen haben. Ich will sie Ihnen schenken. Bitte geben Sie mir Ihre Tochter zur Frau." Da konnte der König nicht nein sagen. Er freute sich sehr über die große Perle und ließ sie an seiner Krone festmachen. Bald wurde die Prinzessin mit dem Tierarzt vermählt, und als der alte König gestorben war, wurde der frühere Hirtenjunge König.