Hildegart Reichert: Der silberne Berg (und andere Märchen im alten Gewande) |
Das Reh mit dem goldenen Geweih
Der Jäger freute sich und versprach, sich eifrig um das seltene Tier zu bemühen. Dann zog er in den Wald. Als er ein gutes Stück gewandert war, erblickte er das Reh, auf dessen Kopf ein Geweih aus Gold glänzte. Es war auch größer und schöner als andere Rehe. Vorsichtig schlich der Jäger sich näher. Doch als er beinahe so dicht herangekommen war, um ihm eine Schlinge über den Kopf werfen zu können, sprang das Tier davon. Der Jäger eilte ihm nach, und wieder entschlüpfte das Reh. So ging es stundenlang, bis die Sonne unterging. Dann war es verschwunden und nicht mehr zu sehen. Der Jäger merkte nun, dass er so weit in den Wald gelockt worden war, dass er nicht wieder herausfand, denn es war inzwischen schon ganz dunkel geworden. Da sah er in der Nähe ein Licht. Er ging darauf zu, und bald stand er vor einer Hütte. Als er anklopfte, öffnete ihm ein wunderschönes Mädchen die Tür. Es war sehr freundlich und lud den Gast ein, über Nacht zu bleiben. Bald kam auch eine alte Mutter hervor, und beide Frauen bemühten sich um den Jäger und bewirteten ihn aufs Beste. Der Jäger erzählte nun, dass er das Reh mit dem goldenen Geweih fangen wollte, und die Frauen sagten, dass das Reh oft in der Nähe des Hauses zu sehen sei.
Am anderen Morgen, als die Sonne aufgegangen war, rief ihn die Alte: "Beeile dich, das Reh lief soeben hier vorbei!" Die schöne Tochter war aber nicht zu sehen. So ging nun die Jagd nach dem Reh wieder den ganzen Tag, bis zum Sonnenuntergang. Und wieder verschwand das Reh in der Nähe des Häuschens, er aber wurde nach Sonnenuntergang wieder von der schönen jungen Tochter so freundlich empfangen. Nach einigen Tagen merkte er, dass sie ihn wohl für immer bei sich behalten wollte. Es kam ihm auch sonderbar vor, dass er sie nie bei Sonnenschein sah, und dass das Reh immer im gleichen Gebüsch verschwand, und dass die alte Frau ihn jeden Morgen drängte, fort zu gehen, um das Reh zu verfolgen. Da dachte er: "Ich will mich heimlich ins Häuschen zurück schleichen und beobachten, was geschieht." Das tat er denn auch. Er verbarg sich und sah, wie die Alte, als sie sich allein glaubte, allerlei Hexerei betrieb, aus Kräutern Tränke braute, Gifte kochte und Zaubersprüche hersagte und zum Teufel betete.
Als sie aber dann einmal die Hexenküche verließ, um neues Brennholz zu holen, schüttete er schnell das Gift aus den Töpfen und füllte sie mit Wasser. Dann verbarg er sich wieder und wartete ab. Als die Sonne gesunken war, kam das Reh mit dem goldenen Geweih zur Tür herein und sprach: "Mutter, ich bin so viel herumgelaufen, aber ich habe den Jäger nicht gefunden. Schnell, mache mich wieder zum Mädchen." Die Hexe goss nun einen Topf Flüssigkeit über das Reh, aber da es keine Zaubermixtur, sondern nur Wasser war, blieb die Verwandlung aus. Nun kam der Jäger aus dem Versteck hervor. Kreischend vor Wut ergriff die Alte ein anderes Gefäß, um ihn zu verzaubern. Aber es war auch nur Wasser und wirkte nicht. Der Jäger aber band der Hexe die Hände auf dem Rücken zusammen.
Dem Reh legte er ein Band um den Hals, und da ihm ein Vöglein voranflog, fand er den Weg zurück. Am frühen Morgen langte er beim Grafen an. Der war hocherfreut, seinen guten Jäger wiederzusehen. Die Hexe wurde ins Gefängnis gesperrt, doch in der Nacht kam der Teufel und holte sie fort. Das Reh mit dem goldenen Geweih kam in einen Zwinger, wo alle Leute es sehen konnten. Der Jäger und seine Braut aber feierten eine schöne Hochzeit, und der Graf beschenkte sie reich.