Hildegart Reichert: Der silberne Berg (und andere Märchen im alten Gewande)
"Das Mähschäfchen" gelesen von Saskia S. (auf YouTube)

Das Mähschäfchen

Auf einer großen Wiese weideten viele Schafe. Eins davon hatte ein munteres Junges mit weichem weißen Fell. "Mähmäh" sagte das Tierchen, das bedeutete so viel wie "Mama". Nun nannten es alle Schafe, die seine Tanten waren, nur noch "Mähschäfchen". Es war ein liebes, fröhliches Kind und hatte es sehr gut im warmen Sonnenschein auf der Wiese mit saftigem Gras und vielen Blumen. Hinter der Wiese war ein großer Wald, und Mähschäfchen wollte zu gern dorthin gehen, aber seine Mutter verbot es und sagte: "Es ist zu gefährlich für so ein kleines Kind."

Einmal hatte eine Schafstante Geburtstag. Alle anderen Schafe gingen zu ihr, gratulierten und hatten sich sehr viel zu erzählen. Mähschäfchen langweilte sich. Es wollte seine Mutter bitten, ob es nur einmal bis an den Rand des Waldes gehen durfte. Aber weil kleine Kinder mit ihren Fragen warten müssen, bis die Großen ausgeredet haben, konnte Mähschäfchen nicht zu Worte kommen, denn die Tanten sprachen ununterbrochen. Deshalb machte sich das kleine Tier allein auf den Weg bis zum Waldrand. Es staunte über die hohen Bäume. Nun kam ein bunter Schmetterling geflogen und rief: "Mähschäfchen, greif mich mal", und flog immer vor dem Schäfchen her. Das war ein lustiges Spiel. Auch ein kleiner Vogel hüpfte herum und wollte sich nicht fangen lassen. Dabei kam Mähschäfchen immer weiter in den Wald hinein.

Die Sonne ging unter, Vogel und Schmetterling waren fort, und Mähschäfchen war plötzlich ganz allein. Es wollte nun schnell zu seiner Mutter laufen, aber es wusste nicht, wie es zurückfinden sollte. Dort stand auch so viel hohes Farnkraut umher, und ein Weg war nicht zu sehen. Es wurde schon dunkel. Mähschäfchen bekam Angst und rief: "Mähmäh, mähmäh." Aber es war viel zu weit von der Wiese entfernt, als daß es die Mutter hätte hören können. Immer weiter lief Mähschäfchen in den dunklen Wald, und immer lauter und ängstlicher schrie es: "Mähmäh, mähmäh." Das hörte ein Wolf, der gerade nach Hause gehen wollte. Er kam zu dem Schäfchen und fragte ganz freundlich, warum es so schreie. Da erzählte es dem Wolf, dass es sich verirrt habe. Der Wolf sprach: "Du brauchst vor mir keine Angst zu haben. Zu deiner Mutter kann ich dich heute nicht mehr bringen. Das ist viel zu weit. Komm mit mir, du kannst im Stall im weichen Heu schlafen, und morgen führe ich dich zurück." Da ging das Mähschäfchen mit dem Wolf zu dessen Wohnung, bekam ein weiches Lager und schlief gleich ein, denn es war sehr müde. Der Wolf aber war böse. Er wollte das Schäfchen schlachten und braten und mit seiner Familie aufessen. Er hatte eine Frau und drei böse Buben. Der kleinste war der ungezogenste.

Am anderen Morgen sagte er zu seinen Kindern: "Ihr könnt mit Mähschäfchen spielen, bis ich zurückkomme, aber achtet darauf, dass der Zaun um unseren Hof geschlossen bleibt, damit es uns nicht davonlaufen kann." Nun holten die bösen Wolfsjungen das Schäfchen aus dem Stall. Es glaubte, es würde nun gleich nach Hause gebracht. Aber die Wolfsjungen lachten es aus und riefen: "Du wirst geschlachtet und gebraten." Mähschäfchen weinte sehr, doch die bösen Kinder lachten und schlugen es und zerrissen sein schönes weiches Fell. Der jüngste Wolfsjunge lief zu seiner Mutter und sagte: "Mähschäfchen soll nicht so schön aussehen, sondern schwarz, und ich möchte so weiß sein wie Mähschäfchen." Da färbte die Wolfsmutter es mit Schuhcreme ganz schwarz, von oben bis unten, ihren Sohn aber bestreute sie mit Mehl, so dass er weiß wurde. Nun wurde das Mähschäfchen noch mehr verspottet. Der Vater Wolf war inzwischen fortgegangen, um noch etwas zu erledigen. Plötzlich kam ihm ein großer Bär entgegen und rief: "Wolf, ich habe schrecklichen Hunger, gib mir etwas zu essen." - "Ich habe nichts bei mir", sprach der Wolf und wollte fortlaufen. Der Bär aber hielt ihn fest und schrie: "Wenn du mir nichts zu essen geben kannst, fresse ich dich auf." In seiner Not erzählte der Wolf, dass er zu Hause ein kleines Schäfchen habe, das mit seinen Knaben spiele, das könne er sich holen. "Wie kann: ich es denn erkennen?" fragte der Bär. "Es hat ein weißes Fell und ist nicht so dunkel wie meine Kinder", meinte der Wolf und lief fort.

Der Bär aber eilte zum Haus der Wolfsfamilie, riss die Zauntür auf, ergriff den weißen Jungen und fraß ihn auf. Die Schuhe und die Lederhose ließ er übrig. Dann verschwand er. Die Brüder erschraken sehr, liefen zur Mutter und erzählten ihr, was geschehen war. Das war ein großer Schreck. Der Bär hatte aber die Zauntür aufgelassen, und Mähschäfchen war hinausgelaufen und fand den richtigen Weg zur Wiese. Es war aber sehr weit. Jetzt kam der Vater Wolf nach Hause. Er war sehr ärgerlich, dass der Bär seinen Jüngsten gefressen hatte. "Wo ist denn Mähschäfchen geblieben?" fragte er. Niemand wusste es. Weil die Tür aufgestanden hatte, sagte der Wolf: "Es ist sicher fortgelaufen, ich will es suchen", und er eilte, so schnell er konnte, den Weg entlang. Mähschäfchen sah ihn kommen und versteckte sich unter dem Farnkraut. Weil es aber so schwarz war, konnte der Wolf es nicht sehen und lief weiter. Da kam das Tierchen hervorgekrochen, rannte eilig weiter und kam richtig zur Wiese. Dort sah es die Schafstanten alle mit traurigen Gesichtern ihr Gras essen. Seine Mutter aber hatte die Augen voll Tränen. Schnell sprang es zu ihr und rief "Mähmäh, ich bin wieder da." Die Mutter antwortete: "Was willst du häßliches schwarzes Tier hier?" - "Ich bin doch dein Mähschäfchen, liebe Mähmäh." "Nein, du bist nicht mein Kind, mein liebes Mähschäfchen hat ein weißes Fell und nicht so ein zerzaustes, schmutziges, schwarzes wie du. Geh fort!"

Nun war das Mähschäfchen ganz unglücklich und bat: "Sieh mir doch mal in die Augen, ich bin wirklich dein Kind. Der Wolf hat mich mitgenommen, und seine Frau hat mein weißes Fell schwarz gemacht, und die Wolfsjungen haben es zerrissen." Nun schaute die Mutter dem Mähschäfchen in die Augen und sah dort noch eine weiße Stelle. "Ja, du bist mein liebes Kind!" rief sie und drückte es fest an sich. Auch die anderen Tanten kamen herbei, und es war eine große Freude. Mähschäfchen wurde im Fluss gebadet und wurde wieder ganz weiß. Es ist aber nie mehr fortgelaufen.


Letzte Änderung: 14.6.2021
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