Hildegart Reichert: Der silberne Berg (und andere Märchen im alten Gewande) |
Das treue Mädchen
Ein König hatte drei Söhne, davon waren die beiden ältesten gar nicht brav, nur der jüngste war lieb. Als sie herangewachsen waren, sagte der König: "Jetzt soll der älteste Sohn drei Jahre lang durch die Welt ziehen, bei fremden Königen dienen und Abenteuer erleben." So geschah es, und als die Zeit um war, kehrte der Sohn zurück, heiratete eine Prinzessin und lebte vergnügt. Nun zog der zweite Prinz für drei Jahre fort.Der jüngste Sohn hatte in dieser Zeit eine schöne Prinzessin getroffen, und sie hatte ihm versprochen, auf ihn zu warten und keinen anderen Prinzen zu heiraten als ihn. Als nun der zweite Sohn des Königs heimkam, ging der letzte Prinz in die Ferne. Doch als er nach drei Jahren wieder zu Hause war, hatte seine Prinzessin den Bruder geheiratet. Sie lachten den Armen auch noch aus, weil er so dumm gewesen war und geglaubt hatte, ein Mädchen könne drei Jahre treu sein. "Nein", sagte sie, "so etwas gibt es auf der ganzen Welt nicht, dass ein Mädchen drei Jahre warten kann." Der Prinz aber sprach: "Ich ziehe unerkannt wieder fort und komme nicht eher wieder, bis ich so ein Mädchen gefunden habe." Er kleidete sich nun wie ein einfacher Wandersmann und zog davon.
Nach einiger Zeit kam er an eine Mühle. Der Müller warb ihn als Gesellen an, denn der Prinz war groß und stark. Nun hatte der Müller eine Tochter, die war so schön, wie man noch nie eine gesehen hatte. Nach einiger Zeit sagte der Geselle zu ihr: "Ich möchte dich heiraten, aber ich muss noch drei Jahre lang durch das Land ziehen, ehe ich dich holen kann. Willst du auf mich warten?" Das Mädchen versprach, drei Jahre lang keinen anderen Mann anzusehen und treu zu bleiben. Sie wusste aber nicht, dass der Müllergeselle ein verkleideter Prinz war. Er nahm nun Abschied und wanderte weiter, bis die Zeit um war. Es kamen viele schöne, reiche Männer, die die hübsche Müllerstochter gern heiraten wollten. Aber sie schickte alle fort. Da wurde ihr Vater ärgerlich, schalt mit ihr und sagte: "Der arme Müllergeselle hat dich längst vergessen." Das Mädchen antwortete: "Wenn er in drei Jahren nicht zurückgekommen ist, heirate ich einen Mann, den du mir aussuchst." Der Prinz war inzwischen wieder zu Hause. Die Brüder verspotteten ihn, weil er kein treues Mädchen mitgebracht hatte. Er aber ließ die goldene Kutsche anspannen und kleidete sich wie ein Prinz, nahm jedoch seine alte Wanderkleidung und ein wunderschönes Kleid mit und zog mit seinen Dienern zur Mühle. Als der Müller den Prinzen kommen sah, verbeugte er sich und fragte nach seinen Wünschen. "Ihr habt doch eine so schöne Tochter, die möchte ich mitnehmen und zu meiner Gemahlin machen", sprach der Prinz.
Der Müller freute sich über die große Ehre, rief seine Tochter und befahl ihr, freundlich zu dem Prinzen zu sein. Das Mädchen erkannte den Prinzen nicht und sagte: "Ich habe vor drei Jahren einem Müllergesellen die Treue versprochen. Heute ist die Zeit um. Wenn er bis heute abend nicht hier ist, werde ich mit euch gehen." Da wandte sich der Prinz um, ging in den Wald und zog die alten Wanderkleider über. Dann kam er wieder zur Mühle. Die Tochter erkannte ihn gleich und fiel ihm glücklich um den Hals. Der Vater war sehr ärgerlich, dass sie den Müllergesellen statt des Prinzen nehmen wollte. Da zog der Prinz das alte Zeug aus und stand vor den erstaunten Leuten in seiner Prinzenkleidung. Dann ließ er das prächtige Kleid holen, das die Müllerstochter anzog. Sie sah darin schöner aus als alle Prinzessinnen der Welt. Der Vater war nun glücklich und zufrieden. Der Prinz und das treue Mädchen stiegen in die goldene Kutsche und fuhren heim. Die beiden älteren Brüder hatte der Vater aus dem Lande gejagt, weil sie viel Böses taten. Er freute sich sehr, dass der jüngste Sohn ein so treues Mädchen gefunden hatte. Bald wurde die Hochzeit gefeiert, und sie lebten glücklich miteinander.